Weihnachten in Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" aus dem Jahre 1774
An eben dem Tage, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er Abends zu Lotten, und fand sie allein. Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke in Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern zum Christgeschenke zurecht gemacht hatte. Er redete von dem Vergnügen, das die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen die unterwartete Oeffnung der Thüre, und die Erscheinung eines aufgepuzten Baums mit Wachslichtern, Zukkerwerk und Aepfeln, in paradisiche Entzükkung sezte. Sie sollen, sagte Lotte, indem sie ihre Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg: Sie sollen auch bescheert kriegen, wenn Sie recht geschikt sind, ein Wachsstökgen und noch was. Und was heißen Sie geschikt seyn? rief er aus, wie soll ich seyn, wie kann ich seyn, beste Lotte? Donnerstag Abend, sagte sie, ist Weynachtsabend, da kommen die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das seinige, da kommen Sie auch – aber nicht eher.
Aus: Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers Nach der Originalausgabe von 1774 Bibliothek der Erstausgaben Dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, München ISBN 978-3-423-02602-4